In unserem aktuellen Interview haben wir mit Chris gesprochen, er ist seit 2021 als Physician Assistant in einer Notaufnahme tätig. Chris engagiert sich zudem in einem Verein, der spezialisierte medizinische Hilfe und Erste-Hilfe-Ausbildung für extreme Situationen anbietet, wie sie bei Naturkatastrophen, in Krisengebieten oder in der Wildnis vorkommen. In diesem Gespräch teilt Chris wertvolle Einblicke in die Praxis der taktischen Medizin und berichtet von seinen Einsätzen in Kriegsgebieten. Er erläutert, welche spezifischen Fähigkeiten und Erkenntnisse er aus diesen herausfordernden Umgebungen für seine tägliche Arbeit in der Notaufnahme mitnimmt.
Warum hast du das Physician Assistant Studium ergriffen?
Vor meinem Studium war ich als Gesundheits- und Krankenpfleger in einer Berliner Notaufnahme tätig und konnte dabei auch internationale Erfahrungen sammeln, unter anderem während des Ebola- Ausbruchs 2014 in Westafrika. Dort bin ich erstmals bewusst mit dem Berufsbild in Berührung gekommen. In Westafrika sind PA´s ein unverzichtbarer Teil der medizinischen Versorgung, was bei mir einen nachhaltigen Eindruck hinterließ.
In den darauffolgenden Jahren wuchs mein Wunsch nach Veränderung. Mit Anfang 30 wollte ich mich beruflich weiterentwickeln und meine bisherige Tätigkeit nicht als Endpunkt meiner Karriere betrachten. Tatsächlich war ich kurz davor, die Medizin ganz zu verlassen.
Doch dann stieß ich zufällig auf einen Nachrichtenbeitrag, in dem das Berufsbild des PA in Deutschland vorgestellt wurde. Meine Neugier auf eine neue Herausforderung war geweckt. Nach kurzer Recherche zu den Aufgaben und Studienmöglichkeiten war für mich klar: Ich möchte PA werden.
Wie arbeitest du aktuell als Physician Assistant und was sind dort deine Aufgaben?
Derzeit arbeite ich Vollzeit in der Notaufnahme eines Regelversorgers im Berliner Umland. Anscheinend kann ich auf die Notfallmedizin einfach nicht verzichten. Nach meinem Studium habe ich mich initiativ beworben, ohne zu wissen, ob dort bereits PA´s tätig sind.
Im Vorstellungsgespräch erfuhr ich, dass bereits seit längerem 2 PA´s in einer chirurgischen Abteilung des Hauses arbeiten. Ich wäre jedoch der erste PA in der Notaufnahme. Die Chefärztin der Notaufnahme war bereit, diesen neuen Weg mit mir zu beschreiten, und ermöglichte es mir, eine neue berufliche Heimat zu finden. Für ihren Mut bin ich ihr sehr dankbar! Es scheint sich ausgezahlt zu haben, denn inzwischen haben wir einen weiteren Kollegen aus der Notaufnahme im Studium zum PA.
Meine Aufgaben in der Notaufnahme sind so vielfältig und abwechslungsreich wie ein Blumenstrauß. Die Chefärztin beschreibt meine Rolle oft als Bindeglied zwischen beiden Welten. Die Trennung zwischen ärztlichem Dienst und Pflege ist in der Notaufnahme eher fließend. So unterstütze ich nicht nur das Pflegeteam beim Legen von Zugängen und anderen Tätigkeiten, sondern stehe ich vor allem den ärztlichen Kollegen und Kolleginnen zur Seite, indem ich Anamnesen erstelle und Behandlungspläne ausarbeite. Darüber hinaus gehören Wundversorgung, Ultraschall, das Legen von arteriellen Zugängen, die Übernahme des C-Parts oder des Kopfarbeitsplatzes im Schockraum zu meinen Aufgaben. Ein weiterer großer Aufgabenbereich ist die klinikinterne Ausbildung. Dazu zählt beispielsweise die Einarbeitung von neuen Mitarbeitern im Schockraum oder die Durchführung von Reanimationstrainings für das ganze Haus. Insgesamt ein sehr breites und immer wieder spannendes Aufgabenspektrum.
Was ist die Medical Response Crew?
Die Medical Response Crew ist ein gemeinnütziger deutscher Verein, der medizinische Hilfe und Schulungen für Menschen in kritischen Umgebungen anbietet. Unser Schwerpunkt liegt auf weltweiten medizinischen Evakuierungen, sowie auf Schulungs- und Mentoring-Programmen für bereits aktive Fachkräfte in Krisenregionen. Darüber hinaus bieten wir spezialisierte Kurse an, wie z.B. TECC-Trainings (Tactical Emergency Casualty Care) und den eigens entwickelten O.S.C.A.R.-Kurs (Outdoor Scenario Casualty and Rescue). Letzteres richtet sich speziell an abenteuerlustige Menschen, die sich in Gebieten aufhalten, in denen keine unmittelbare medizinische Hilfe verfügbar ist. Unser Angebot kombiniert medizinisches Fachwissen mit taktischem Know-how und richtet sich an interessierte Laien, sowie an medizinische und taktische Fachkräfte. Unser Verein positioniert sich als unverzichtbares Instrument in der Krisenakuthilfe.
Wir liefern nicht nur dringend benötigte Hilfsgüter in Konfliktgebiete, sondern stärken vor Ort auch medizinische Fachkräfte durch gezielte Aus- und Weiterbildungsprogramme. Unter dem Motto „In tenebris lux sumus“ – „In der Dunkelheit sind wir das Licht“ – haben wir es uns zur Aufgabe gemacht, in Krisen- und Kriegsregionen, wo Hoffnung oft rar ist, als Wegweiser und Stütze zu dienen.
Welche Aufgaben nimmst du dort wahr?
Neben meiner Tätigkeit in der Klinik übernehme ich innerhalb der Medical Response Crew die Leitung der medizinischen Ausbildung und berate den Vorstand in medizinischen Fragen.
Im Falle eines Einsatzes bin ich für die Leitung eines Trauma Stabilisation Points, kurz TSP, verantwortlich. Ein TSP ist im Grunde ein vorgelagerter Schockraum, der sich in unmittelbarer Nähe zum Einsatzort befindet. Hier können wir erste lebensrettende Maßnahmen durchführen um den Patienten zu stabilisieren und für den Transport in die nächsthöhere Behandlungseinrichtung vorzubereiten.
Der Hauptfokus meiner Arbeit liegt jedoch auf der Planung und Durchführung unserer Kurse.
Innerhalb des Vereins habe ich mich zum TECC-Instructor und Trainer für das „Stop the Bleed“-Programm aus den USA weitergebildet. Der Verein bietet mir aber auch die Möglichkeit, eigene Ideen zu verwirklichen. So habe ich das O.S.C.A.R.-Kursformat entwickelt, das wir bereits mehrfach erfolgreich durchgeführt haben. Ohne die Unterstützung aus dem Team wäre das allerdings nicht möglich.
Derzeit arbeiten wir gemeinsam an der Entwicklung eines neuen Formats im dem Bereich der taktischen Medizin.
Wie kannst du dein Wissen als PA dort einsetzen?
Wir bewegen uns als Verein stark im Bereich der Notfallmedizin, wodurch ich mein Wissen und meine Erfahrungen direkt ins Team einbringen kann. Nach meinem Empfinden wird die auch gerne angenommen. Ein Beispiel hierfür ist die Ausbildung des Atemwegsmanagements. Für die Zukunft sind außerdem kleinere Ultraschallkurse für entsprechende Teammitglieder geplant.
Auch bei den Kursen selbst kann ich mein Wissen weitergeben. Obwohl wissenschaftliches Arbeiten im Studium nicht zu meinen Lieblingsaufgaben zählte, gewinnt es im Verein zunehmend an Bedeutung. Unser Anspruch ist es, nach aktueller Studienlage und Empfehlungen zu arbeiten.
Das bedeutet, dass wir regelmäßig Fachliteratur sichten, bewerten und unsere Handlungskonzepte anpassen müssen.
Was ist die wohl größte medizinische Herausforderung bei der MRC?
Die größte Herausforderung besteht darin, die notwendige Hilfe zur richtigen Zeit an den richtigen Ort zu bringen. Unser medizinischer Schwerpunkt liegt derzeit auf unserer Tätigkeit in der Ukraine.
Die Bedingungen, die wir dort vorfinden, unterscheiden sich stark von der Versorgungsstruktur in Deutschland. Während es in den Ballungsräumen oft keine gravierenden Einschränkungen gibt, sehen wir uns auf dem Land mit völlig anderen Problemen konfrontiert. Der Zugang zu medizinischer Versorgung ist dort nicht selbstverständlich. Schlechte Straßenverhältnisse machen jeden Besuch in einem abgelegenen Dorf zu einer mehrtägigen Reise. Bei schlechtem Wetter ist die Anfahrt manchmal gar nicht möglich. Zusätzlich stellt die unmittelbare Gefahr durch Kampfhandlungen und zurückgelassene Kampfmittel, wie Minen, eine erhebliche Bedrohung dar.
Selbst wenn wir den Einsatzort erreichen, sind unsere Mittel oft begrenzt. Entscheidet sich ein Bewohner gegen die Evakuierung, weil er sein Hab und Gut nicht zurücklassen möchte, bleibt uns vor Ort meist nur die Möglichkeit, Nahrung und Wasser bereitzustellen und basismedizinische Maßnahmen wie Blutdruckmessungen oder einfache Wundversorgungen durchzuführen.
Eine weitere große Herausforderung ist natürlich die Finanzierung unserer kostspieligen Hilfseinsätze. Unsere Arbeit wird ausschließlich durch Spenden und mit Eigenkapital finanziert.
Da wir keine großen Sponsoren haben, müssen wir unsere Einsätze selbst tragen. Zwar helfen die Einnahmen aus den Kursen, aber diese decken nicht den gesamten Bedarf.
Was nimmst du von der Arbeit bei der MRC für dich als PA in der Klinik mit?
Im täglichen Berufsleben gibt es oft einen festen Ablauf und gewohnte Strukturen, die uns Sicherheit bieten. In der Klinik, unserer Komfortzone, fühlen wir uns gut aufgehoben – hier ist es warm und trocken, und wir haben Zugang zu modernster Technik.
Aber außerhalb der Komfortzone, wenn wir mit weniger Ressourcen arbeiten müssen, gewinnen wir neue Erfahrungen. Manchmal haben wir nur eine Blutdruckmanschette statt eines Überwachungsmonitors oder ein Beatmungsgerät, das längst ins Museum gehört. Doch wir schaffen es trotzdem, indem wir uns auf das Wesentliche konzentrieren, improvisieren und manchmal einfach ein Lächeln aufsetzen,
Gibt es eine Geschichte bei der MRC die dich besonders bewegt hat?
Kurz vor Weihnachten 2023 erhielten wir einen Anruf von der Mission Siret der Johanniter, die uns anboten uns einen hervorragend gepflegten KTW inklusive Stryker-Trage und Verbrauchsmaterial zu überlassen. Einzige Bedingung: Selbstabholung.
Am 26.12. machte sich ein Team von uns auf den Weg zur ukrainisch-rumänischen Grenze und legte in etwa 72h rund 5000km zurück.
Die Karpaten erwiesen sich als atemberaubend schön, aber auch als Herausforderung beim Fahren – eine Region, in der die Zeit gefühlt stillsteht.
Wieder zurück in Deutschland suchten wir nach einen Namen für das neue Fahrzeug und die Wahl fiel schnell auf „Anna“.
Warum Anna?
Anna war eine ältere ukrainische Dame, die hat mit ihrem Mann in einem kleinen Dorf nördlich der Stadt Kharkiv lebte, welches direkt im Frontbereich lag. Dort waren sie völlig auf sich allein gestellt, versorgt höchstens sporadisch vom Militär, selten von Hilfsorganisationen. Trotz der kritischen und gefährlichen Lage weigerten sich die beiden, ihr Zuhause zu verlassen.
Ab August 2022 waren einige unserer Mitglieder genau in diesem Gebiet tätig, umgeben von Minenfeldern und Artilleriebeschuss. Sie versorgten Anna und ihren Mann regelmäßig mit Lebensmitteln und Medikamenten. Anna trug stets eine kleine Metallschachtel bei sich, in der sie ihre wichtigsten Wertgegenstände aufbewahrte: Fotos der Familie, Medikamente und die Telefonnummern von 2 unserer Mitglieder.
Für Anna waren die Besuche unserer Jungs „das Licht in ihrer Dunkelheit“.
Aus diesen Einsätzen entstand später die MRC.
Unser Leitspruch „In tenebris lux sumus“ – „In der Dunkelheit sind wir das Licht“ geht direkt auf Anna zurück. Leider ist Anna im November 2023 verstorben.
Für uns war es daher schnell und einstimmig klar, dass der KTW den Namen „Anna“ tragen würde. Wir sind überzeugt, dass Anna von nun an schützend ihre Hand über uns hält und uns auf all unseren Wegen begleitet.