Der Gedanke an die Antarktis weckt Bilder von endlosen Eislandschaften, extremen Bedingungen und Abenteuern abseits der Zivilisation. Für Anja, eine engagierte Physician Assistant, wurde diese Vorstellung zur Realität. Inspiriert von einer Dokumentation über die Polarstern – Deutschlands berühmten Forschungseisbrecher – entschied sie sich, den Schritt ins Unbekannte zu wagen.
Im Sommer 2024 kam der entscheidende Anruf: Ein Platz auf der Polarstern war frei. So begann eine außergewöhnliche Reise, die sie in die entlegensten Regionen der Welt führte. Während ihrer zehn Wochen an Bord war Anja Teil eines medizinischen Teams, das unter einzigartigen Bedingungen arbeitete. Dabei nutzte sie ihre Fähigkeiten als PA, um sowohl die Crew als auch Wissenschaftler medizinisch zu betreuen und dabei die Herausforderungen der Polarregionen zu meistern.
Im folgenden Interview erzählt Anja von ihrem Weg auf die Polarstern, ihren vielseitigen Aufgaben an Bord und den unvergesslichen Momenten, die sie in einer der faszinierendsten Umgebungen der Welt erleben durfte. Ein Einblick in ein Arbeitsumfeld, das zeigt, wie breit gefächert die Einsatzmöglichkeiten für Physician Assistants sein können.
Wie kam es zu der Möglichkeit, auf der Polarstern zu arbeiten?
Vermutlich kennen wir es alle, dass wir von unserem Alltag, gerade wenn der Urlaub noch sehr fern scheint oder einfach sich stressige Zeiten gegenseitig ablösen, mal nach einer Alternative sehnen bzw einfach genervt/überfordert ist. So ergab es sich, dass ich eine Dokumentation über die Polarstern, die Aufgaben und das Leben auf dem Schiff sah. Dieser ungewöhnliche Arbeitsplatz hat mich sofort angesprochen. Jemand bezeichnete mich mal als den „nordischen Typ“. Gemeint ist die Affinität zur Kälte, zum Eis und vor allem die Tatsache, dass der erste Schnee, große Freude in mir auslöst. Da es den PA als Beruf auf diesem Schiff noch nicht gibt, sondern als medizinisches Personal Arzt und Krankenschwester vorgehalten sind, bewarb ich mich kurzerhand als Krankenschwester bei der Reederei. Mir war sofort klar, dass mir der PA unglaublich in die Karten spielen würde bei 100 möglichen Patienten und nur zwei Personen als medizinischem Personal. Da die Crew Mitglieder in festen Teams arbeiten und sich alle drei Monate gegenseitig ablösen, gestaltete es sich schwierig an diesen Job heranzukommen. Im Sommer 2024 war es dann aber soweit und der Anruf von der Reederei kam auf dem Schiff arbeiten zu dürfen, allerdings mit dem Vermerk, dass wir zufällig zwei Krankenschwestern seien und wir auch die Aufgaben der Stewardess übernehmen müssten. So stieg ich also am 19.10.24 im Heimathafen Bremerhaven auf die Polarstern für 10 Wochen.
Was ist die Polarstern?
Die Polarstern es ein deutscher Eisbrecher. Sie dient hauptsächlich der Forschung und auch der Versorgung von verschiedenen Stationen zum Beispiel der Neumayer Station in der Antarktis. Hier wohnen ununterbrochen die sogenannten Überwinterer, welche hier für 14 Monate verbleiben. Die Station ist darauf angewiesen dass sie durch Schiffe, wie die Polarstern Nahrung, Ausrüstung und andere Sachen versorgt wird. Die Polarstern selbst ist etwa 120 m lang und 32 m breit. Also nicht ganz klein. 🙂 Die Besetzung beträgt ungefähr 100 Leute, von denen circa die Hälfte Crewmitglieder und die andere Hälfte Wissenschaftler sind. Die Polarstern fährt regelmäßig einmal im Jahr in die Arktis und einmal im Jahr in die Antarktis für mehrere Wochen. In der Zwischenzeit sind Überfahrten und auch geplante Werftzeiten in der Jahresplanung.
Was sind deine Hauptaufgaben als PA auf einem Forschungsschiff wie der Polarstern?
Zu den Hauptaufgaben zählt natürlich in erster Linie die Versorgung der Patienten aber auch die Instandhaltung des Equipments. Die Polarstern ist mit einem eigenen Hospital ausgestattet, welches insgesamt vier Zimmer umfasst, von welchen zwei Patientenzimmer sind. Ein weiterer Raum ist der OP Saal bzw Eingriffsraum und ein weiterer ist ein Behandlungszimmer in welchem die Apotheke und auch Teile des Labors untergebracht sind. Des Weiteren sind auf dem ganzen Schiff Art Erste Hilfe Kästen und auch zum Beispiel Augenspüllösungen angebracht, welche monatlich abgegangen und natürlich kontrolliert werden müssen. Man arbeitet logischerweise sehr eng mit dem Schiffsarzt zusammen und begleitet Visiten und assistiert bei Eingriffen, Wundversorgungen oder Medikamentenverabreichungen. Eine weitere Aufgabe auf dem Schiff umfasst medizinische oder auch Sicherheitsdrills. Hier geht es darum Notfallsituationen durchzusprechen, zu simulieren und schiffsspezifisch durchzuführen. Ein gutes Beispiel hierfür ist das Mann-über-Bord-Manöver. Bei eisigen Temperaturen im Polarkreis bleiben den Erstrettern nur ca. 5 Minuten bis der zu Rettende bewusstlos ist. Auch die Rettungswege bedürfen einer besonderen Aufmerksamkeit. Mit einer Patiententrage kommt man nur schlecht über die schmalen, verwinkelten Gänge, steile Treppen und eigens zufallende Türen.
Wie unterscheidet sich die medizinische Versorgung auf einem Schiff in der Arktis oder Antarktis von der in einem Krankenhaus oder in einer Praxis?
Grundlegend zumindest im Alltag nicht viel anders als an Land. Der Schiffsarzt ist wie ein Hausarzt anzusehen, bei dem man sich bei allen Arten der medizinischen Versorgung melden kann. Natürlich verfügt der Schiffsarzt über besonderes Skills in nahezu jeder Fachabteilung der Medizin. Dieses Wissen theoretischer, wie auch praktischer Art, gepaart mit dem nötigen Selbstvertrauen hat mich tief beeindruckt. Dank Telemedizin ist man aber auch hier nur selten auf sich allein gestellt. Internationale Nummern und Hotlines machen eine medizinische Versorgung per Telefon und auch per Videotelefonie möglich. Dies ist zum Beispiel bei einer Notfalloperation von Nöten. Die Polarstern selbst verfügt allerdings auch über eine spezifische Ausstattung. Im OP Saal zum Beispiel findet man neben einem Narkosegerät auch ein C Bogen zum Röntgen. Im selben Raum befindet sich ein Sterilisation, so dass OP Siebe nach Benutzung selbst aufbereitet werden können. Neben kleineren Geräten wie einer Blutgasanalyse, einem PCR Gerät existiert eine Zentrifuge zur Blutanalyse und eine eigene Zahneinheit für zahnmedizinische Eingriffe. In einem der Patientenzimmer findet man ein besonderes Bett mit galvanischer Aufhängung. Hier werden die Schiffsbewegungen ausgeglichen für Patienten mit starker Seekrankheit. Die anderen Betten sind mit einer intensivmedizinischen Überwachung inklusive Monitoring und auch zwei verschiedenen Beatmungsgeräten ausgestattet.
Welche Herausforderungen gibt es in der medizinischen Versorgung in so abgelegenen Regionen?
Die größte Herausforderung ist die extreme Kälte. Dieses rückt medizinische Notfälle in den Vordergrund, welche an Land eine Rarität sind. Auch hier ist das Mann-über-Bord-Manöver wieder ein gutes Beispiel. 5 Minuten zur Menschenrettung bei voller Fahrt stellt eine große Herausforderung dar. Auf der Polarstern befinden sich zwei Hubschrauber inklusive Piloten. Gerade in den Polarregionen gibt es das so genannte „White out „ Phänomen. Dies beschreibt eine plötzliche Orientierungslosigkeit des Piloten, da sich die Umgebung also über, unter, wie links und rechts des Hubschraubers als eine weiße, graue Wand darstellt und so der Hubschrauber meist verunfallt. Eine weitere Herausforderung umfasst die Schiffsreise selbst in der man sich oft Tage oder auch Wochen vom Festland entfernt bewegt. Kritische Patienten zum Beispiel nach Operation oder im Rahmen einer Sepsis können dadurch zeitverzögert an Land übergeben und fachmedizinisch versorgt werden.
Gibt es besondere Momente oder Eindrücke, die dir bisher besonders in der Erinnerung geblieben sind?
Die Besonderheit der Polarstern ist, dass man an die an die entlegensten Orte der Welt kommt. Ob es nun die Dünen in Namibia oder auch die gigantische Schelfeiskante ist, so lernt man doch die Schönheit und die Ruhe der Natur zu schätzen. Auch manche Tiere bringen die Besatzung zum Staunen. So gab es während eines Grillens an Bord plötzlich ein Aufschrei bei dem ein fliegender Fisch aus dem Wasser über die Schiffskante und den Biertisch sprang und fast auf dem Grill landete. Hätte ich es nicht mit eigenen Augen gesehen, würde ich dies unter Jägerlatein verbuchen. Auch Delfine, spielende kleine Robben und Riesenschildkröten versüßen einem den Tag. Ganz zu schweigen von den Eisbären in der Arktis oder auch die putzigen Pinguine in der Antarktis. Das alles beruflich sehen zu dürfen ist eigentlich ein Privileg.
Mit welchen Berufsgruppen arbeitest du an Bord zusammen? Und wie funktioniert die interdisziplinäre Zusammenarbeit?
Die Hierarchien an Bord der Polarstern waren glücklicherweise relativ flach. Vor einem militärischen Führungsstil hatte ich schon ein wenig Angst. Einige Patienten mussten auch mit dem Kapitän als Entscheidungsträger besprochen werden. das gestaltete sich glücklicherweise unkompliziert. Im Ernstfall oder auch im Falle einer Operation müssen die nautischen Offiziere assistieren, dies ist Teil des Nautik Studiums. Erfreulicherweise war eine OP während meiner Schiffsreise nicht von Nöten. Darüber hinaus gestalten sich die verschiedenen Berufsgruppen schiffsspezifisch. Vom IT Spezialisten bis zum Koch findet man hier alle notwendigen Berufe, eben wie in einem Krankenhaus. Auch die Wissenschaftler, hauptsächlich bestehend aus Biologen, Geologen und auch Mathematikern brachten mir sowohl die Messungen als auch die Wissenschaft an sich näher. Ich habe die Zusammenarbeit im interdisziplinärenTeam als positiv und auf Augenhöhe empfunden. Sicherlich gab es hier und dort Reibereien, was bei diesem intensiven Arbeitsmodell nicht auszuschließen ist. Die verschiedensten Generationen und auch Geschichten wer wie an Bord der Polarstern gekommen ist gestalteten den Alltag dennoch interessant.
Welche Fähigkeiten oder Kenntnisse konntest du durch diese Arbeit erweitern?
Die Arbeit an Bord als medizinisches Team ist ein bisschen mit der Arbeit in der Notaufnahme zu vergleichen. Einmal mehr ist eine gute Anamnese in Zusammenhang mit einer guten körperlichen Untersuchung zu unterstreichen. Ähnlich wie in der Notaufnahme muss man zügig einschätzen können wie akut der Notfall ist und wann die Situation zu kippen droht. Hierbei spielen Erfahrung, das eigene Bauchgefühl und die Intuition auch eine große Rolle. Vorteil ist, dass man die Besatzung in Alltagssituationen und auch von Mahlzeiten oder gemeinsamen Aktivitäten her kennt. So kann man typisches und untypisches Verhalten im Rahmen der Patientenbeobachtung analysieren. Die Konsequenzen des eigenen Handels und auch die Aufstellung eines Behandlungsplans sind ähnlich wie in der Notallversorgung an Land. Wann und warum mache ich welche Untersuchung? Was muss heute noch erfolgen? Wann hole ich mir Hilfe? Die Ressourcen des Equipments und auch des Personals sind grundlegend zu schonen. Dennoch soll und muss jeder Patient ausreichend versorgt werden.
Es war ein tolles Abenteuer mit Höhen und Tiefen. Ich bin dankbar für den exklusiven Blick in die Schiffswelt und auch in das Arbeiten an Bord. Das Wasser, die Tiere, das Freiheitsgefühl, wenn man wochenlang nur Wasser und kein Schiff oder Land gesehen hat sind unbeschreiblich. Es ist eine eigene Welt! Mein großer Dank gilt meinem Mann und meiner Klinik, welche mir diese Reise ermöglicht und mir den Rücken freigehalten haben. Da ich gerne die Antarktis sehen möchte, werde ich es wohl irgendwann wieder tun.
>> Hier liest Du Anjas Interview zu ihrer Arbeit in der Pneumologie